Muskelsucht und Hungerwahn
Der Mann von heute muss schön sein, mit Muskelpaketen und Waschbrettbauch. „Adonis-Komplex“ heißt das neue Psycho-Phänomen
Breite Schultern, schmale Hüften und dicke Muskelpakete: Körperlich muss der neue Mann heute einiges bieten können, denn Bierbauch und Fernsehsessel sind out und der schmächtige Softie ist schon lange von gestern. Hochglanzmagazine, Werbung und Hollywood beflügeln diesen Trend, und immer mehr Männer lassen sich von der simplen Botschaft mitreißen: Mit Bizeps und Waschbrettbauch kommt der Erfolg im Beruf, bei den Frauen und nicht zuletzt beim Sex. Doch der Schönheitskult hat Schattenseiten. „Adonis-Komplex“ heißt das neue Psycho-Phänomen, unter dem immer mehr Männer leiden. Die Folgen der Orientierung an perfekten Körper-Vorbildern sind unterschiedlich: Während sich die einen Muskelberge antrainieren, hungern die anderen ihr Gewicht krankhaft herunter. „Im Gegensatz zur Magersucht ist die so genannte Muskeldysmorphie ein neues Phänomen“, erklärt Barabara Mangweth, Psychologin an der Uni-Klinik in Innsbruck.
Äußerlich seien die Muskelsüchtigen zwar ein völlig anderer Typ als Magersüchtige, aber beides sei eine Zwangskrankheit. Meist sind Menschen mit Muskeldysmorphie Bodybuilder. Sie halten sich für klein und schmächtig, obwohl sie sich schon übermäßige Muskelpakete antrainiert haben. Mangweth hat als eine der ersten Forscherinnen in Europa eine Studie mit Bodybuildern zu diesem neuen Phänomen geleitet. Die Ergebnisse offenbarten, dass die Betroffenen unter einem unglaublichen Leidensdruck stehen. „Das permanente Training bestimmt das ganze Leben“, berichtet die Psychologin. Die Leute verbringen täglich mehrere Stunden im Fitnessstudio und suchen sich ihre Arbeit danach aus, wie sie am besten ihren Trainingsplan erfüllen können. „Auch sozial kapselt sich diese Gruppe völlig ab“, erzählt Mangweth. Sie nehmen keine Einladungen mehr an, weil sie glauben, sie müssten noch mehr trainieren. Allerdings sei nur etwa ein Prozent der Bodybuilder muskelsüchtig, schätzt Mangweth.
„Von Frauen abgeschaut“
Weitaus höher nach liegt die Zahl der magersüchtigen sowie ess- und brechsüchtigen Männer. Etwa zehn Prozent der Menschen mit Ess-Störungen seien männlich – vermutlich sogar mehr, glaubt Mangweth. Tendenz steigend. Dies bestätigt Axel Boxhorn vom Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen. „Besonders die bulimischen Männer sind deutlich mehr geworden“, berichtet der Psychotherapeut. „Die Männer haben sich da etwas von den Frauen abgeschaut“, meint er. Es sei das perfektionistische, krankhafte Streben nach der Idealfigur.
Magersüchtige fühlen sich immer zu dick, auch wenn sie noch so dürr sind. Der Verlauf und der Umgang mit Magersucht (Anorexie) und Ess- und Brechsucht (Bulimie) sei bei Männern und Frauen gleich. „Männer kommen meist noch später als Frauen zur Therapie“, sagte Boxhorn. Die männlichen Magersüchtigen ignorierten ihr Untergewicht (wie es durch den so genannten Body-Mass-Index berechenbar ist) noch länger als Frauen. Zumal Magersucht als typisches Frauenleiden gelte, so der Psychotherapeut.
Angst vor der Badehose
Die Ursachen für die zunehmenden Ess-Störungen bei Männern scheinen vielfältig. „Einen alleinigen Grund gibt es nie“, betont Birgit Buchinger. Die Salzburger Psychologin kam in einer Untersuchung* über das Körperbewusstsein von Männern zu dem Schluss, dass sie den Körper als Mittel im männlichen Konkurrenzkampf entdeckt haben – ähnlich wie Auto, Geld und Status. „Der Leistungsaspekt ist ganz wichtig. Man hungert diszipliniert, trainiert diszipliniert, und selbst Sex misst man an der Dauer und Häufigkeit“, weiß Buchinger. Der Körper werde somit zu einem sichtbaren Leistungsprodukt.
Hinzu kommt, dass Frauen heute unabhängiger und anspruchsvoller scheinen. Die Männer bekämen auch mal kritische Rückmeldungen. „Viele Männer hatten in unserer Befragung sogar Angst sich in Badehose zu zeigen“, erzählt Buchinger. Barbara Mangweth findet: „Medien und Werbung haben ihren Teil zu diesem neuen männlichen Idealbild beigetragen.“ Solche Idealbilder hat es immer gegeben. Neu ist aber, dass sie für Männer so bedeutsam geworden sind.
Mangweth warnt davor, das Phänomen nur gesellschaftlich erklären zu wollen. „Vor allem bei der Muskeldysmorphie treten andere psychische Störungen wie Depressionen oder Panik-Attacken auf“, erklärt sie. Die Muskel-Sucht könne auch ein Ventil für tiefer liegende Störungen sein. Gäbe es keine Fitness-Studios mehr, könnten diese Menschen auch internetsüchtig oder kleptomanisch werden.
Quellen
* Beate Hofstadler; Birgit Buchinger: „KörperNormen – KörperFormen. Männer über Körper, Geschlecht und Sexualität“. Wien: Turia + Kant 2001.